In Zeiten wachsendem Individualismus scheinen kollektive Belange und die Fähigkeit sich für das Gemeinwohl zu engagieren in den Hintergrund zu rücken. Und wer sich trotzdem darum kümmert – wie z.B. Politiker – wird argwöhnisch beobachtet und nicht selten mit Vorurteilen belegt. So müsste z.B. das Zerrbild vom Politiker, der eigentlich auch nur auf einem individuellen Machttrip sei und gar nicht an das Gemeinwohl und die Erwartungen seiner Wähler denkt, durch konkrete Kenntnisse des politischen Alltags berichtigt werden. An Schulen konzentriert man sich auf die Weitergabe von faktischem Wissen, was durchaus notwendig ist, wenn man politische Kompetenzen erwerben möchte. Aber auch hier gilt: grau ist alle Theorie. Es ist also durchaus eine wesentliche Frage wie man es schaffen kann, jungen Erwachsenen, die am Ende der Schulausbildung stehen und in den Alltag der Selbstständigkeit entlassen werden, eine positive Erfahrung in politischer Teilhabe mit auf den Weg zu geben, in der Hoffnung sozial-politisches Interesse geweckt zu haben.
Eine erste gute Erfahrung mit Podiumsdiskussionen für Erstwähler und Abiturienten hatten der RDJ, Infotreff, JIZ, Alteo und zwei Gewerkschaftspartner bereits im Wahljahr 2014. Unter dem Motto „Wahldebatte ohne Kauderwelsch – Hier reden Politiker wie du und ich… einfach und verständlich!“, sollten auch die Politiker darauf hingewiesen werden, dass sie selbst viel dafür tun können Jungwählern ihre Ideen näher zu bringen, wenn sie sich einer einfachen Sprache bedienen.
Leichte Sprache ist ein Konzept, dessen Regelwerk seit 2006 vom deutschen Verein Netzwerk Leichte Sprache (https://www.leichte-sprache.org/) herausgegeben wird. Dieses Kommunikationsprinzip wurde 2016 wieder auf der Podiumsdiskussion zur Bilanz der ersten Hälfte der Regierungszeit angewandt und ist seither eine Konstante bei jeder neuen Konzeption einer Podiumsdiskussion. Leichte Sprache als Kommunikationsprinzip erfreut sich seither in Ostbelgien eines wachsenden Bekanntheitsgrades.
Auf Grunde dieser guten Vorerfahrungen sollte eine Neuauflage für Mai 2019 im Kontext der belgischen Gemeinschafts- und Föderal-, sowie den Europawahlen auf den Weg gebracht werden. Eine Podiumsdiskussion mit Spitzenpolitikern aller zur Wahl stehenden Parteien für Abiturienten und eine weitere außerhalb des Schulkontextes für Erstwähler wurden mit Erfolg organisiert, diesmal ohne die Gewerkschaftspartner aber mit der zusätzlichen Unterstützung von Ocarina, des IDP und des PDG. Sekundarschulen meldeten für den ersten Event 305 Teilnehmer an. Bei der öffentlichen Veranstaltung im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft kamen nochmals 170 Erstwähler freiwillig. Nicht nur für die jungen Erwachsenen war es eine gute Gelegenheit sich ein Bild über die Politiker und ihre Parteiprogramme zu machen, sondern auch für die Politiker mit Erstwählern in Kontakt zu kommen.
Bei der späteren Evaluierung der Podiumsdiskussion wurde dann eine grundlegende Frage aufgeworfen: Wieso organisieren wir solch eine Podiumsdiskussion nur zweimal in einer Legislaturperiode? Was ist mit den Abiturjahrgängen, die dazwischen liegen? Diese sollten auch die Gelegenheit haben, Politiker zu einem Austausch zu treffen. Politisches Handeln beschränkt sich ja nicht nur auf den Akt des Wählens. Es ist ein bewusster Umgang mit vielseitigen gesellschafts-politischen Themen im Alltag, die zu diskutieren es bestimmter Kompetenzen bedarf.
Politische Erwachsenenbildung sollte sich daher nicht nur auf die Erklärung formaler politischer Abläufe beschränken. Sie sollte möglichst einen direkten Einblick in die Praxis erlauben. In diesem Sinne scheint die Podiumsdiskussion ein ausbaufähiges Modell zu sein, wie wir im Folgenden aufzeigen werden.
Podiumsdiskussionen sind natürlich keine Innovation. Es gibt sie praktisch zu allen Themen der Aktualität. Der Zuschauer kann oft auch in einem zweiten Teil der Diskussion seine eigenen Fragen stellen. Die Podiumsdiskussion ist eine Gelegenheit für ein interessiertes Publikum durch den öffentlichen Austausch unter Fachleuten etwas dazuzulernen. Es sind die Fachleute, die einen inhaltlichen Mehrwert aus ihrer interdisziplinären Debatte produzieren. Die Gestaltung einer solchen Podiumsdiskussion liegt bei dieser Definition also bei den Fachleuten, die durch vorbereitete Fragen eines fachkundigen Moderators miteinander diskutieren. Selbst wenn ein Zuschauer oder Zuhörer gegen Ende noch eine Frage stellen kann, ist seine Rolle für die Diskussion eher nebensächlich.
Um solch eine Debatte unter Fachleuten in einen Austausch mit Fachleuten umzuformen und dadurch Erwachsenenbildung zu fördern, muss die Struktur der Podiumsdiskussion umgestaltet werden; und zwar so, dass das Publikum eine proaktivere Rolle bekommt und sich somit aktiv weiterbilden kann. Denn in diesem Fall wäre der Mehrwert, der gemeinsam mit den Fachleuten geschaffen wird, nicht nur mehr inhaltlichen Charakters, sondern auch aktive Teilhabe an der Gestaltung des Themas und damit politische Partizipation.
Dennoch, so einfach sich das anhört, ist es nicht umzusetzen. Dadurch dass sich der gestalterische Fokus auf ein Publikum praktisch ohne Vorkenntnisse und Erfahrungen verschiebt, müssen Elemente bei der Organisation in Betracht gezogen werden, die sich bei einer Gruppe von Fachleuten nicht in dieser Vielfalt ergeben. Leute unter einen Hut zu bringen, die alle notwendigen Vorkenntnisse mitbringen, ist wesentlich einfacher, als den Großteil der Aufgabe der inhaltlichen Gestaltung an fast 500 Abiturienten und Erstwähler mit keiner Erfahrung zum Thema zu übergeben. Die Vorbereitung für eine Podiumsdiskussion dieser Art braucht wesentlich mehr Zeit, weil den Erstwählern die Gelegenheit gegeben werden muss, sich zu informieren bevor sie ihre Fragen formulieren können.
Es ist müßig darauf hinzuweisen, dass die Logistik für solch ein Unterfangen enorm ist, und dass auch einige Kosten besonders für die technische Begleitung der Veranstaltung entstehen. Man muss also mindestens sechs Monate vor der Podiumsdiskussion mit der Planung beginnen, damit dann alles glatt läuft.
1. Prinzip: Junge Erwachsene fragen – Politiker antworten Das erste Prinzip ist also, dass Politiker auf die Fragen der Jungwähler antworten und keine Fragen durch einen fachkundigen Moderator erarbeitet und gestellt werden. Dennoch müssen auch zusätzliche Fragen von der Moderation vorbereitet werden, falls nicht ausreichend Fragen eingereicht werden oder für den Fall, dass das Publikum in der freien Fragezeit keine Fragen stellt. Die Fragen müssen allerdings Themen behandeln, die für die Abiturienten und Erstwähler relevant, d.h. dem Alters- und Wissenskontext des Publikums angepasst sind. Damit Abiturienten ihre Fragen auch mit Hintergrundwissen formulieren können, wurden den Schulen verschiedene pädagogische Programme und Animationen oder Workshops aller Konsortiumsteilnehmer angeboten. Sie konnten zwei Monate vorher von den Lehrern kostenlos gebucht werden. Das sollte auch denjenigen, die sich nicht in der Lage fühlten einen solchen Unterricht vorzubereiten, ermöglichen, die Schüler zu diesem Thema zu informieren. Die Fragen konnten dann in schriftlicher Form oder aber auch als Videoclip eingereicht werden.
2. Prinzip: Moderation der Teilhabe, nicht des Wissens Die eingegangenen Fragen wurden auf ihre Relevanz für das Thema hin sortiert. Dann musste die Moderation des 2-Stunden Events geplant werden: Was ist relevant für eine kurze Einführung, wieviel Sprechzeit pro Politiker, wie das Publikum bei der Stange halten, wie Transparenz zur Sprechzeit garantieren, wie gibt man der Veranstaltung einen mitreißenden Rhythmus, wie manche Fragen umgestalten, damit sie noch mehr das Gefühl der Teilhabe an der Veranstaltung unterstreichen, usw. Natürlich geht es auch um den Mehrwert an neu erlangtem Wissen, aber vornehmlich geht es darum, den jungen Leuten eine positive Erfahrung von demokratischer Kultur zu vermitteln, ganz im Sinne des europäischen Kompetenzrahmens für demokratische Kultur.
Die Veranstaltung darf sich also nicht nur um aneinandergereihte Fragen drehen, sondern muss nebst eindeutig identifizierbaren Fragen aus dem Publikum z.B. durch die eingesandten Videos, auch andere eingesandte Fragen unter neuer Form zur Geltung bringen. Dafür gibt es einige Apps (Mentimeter, Kahoot, Slido, …), die eine Teilnahme aller während der Veranstaltung erlaubt und schnell visuelle Ergebnisse wie Word Clouds und Graphiken bringt, über die dann diskutiert werden kann. Zur Abwechslung kann man das Publikum auch mit farblich gekennzeichneten Ja- und Nein- Karten abstimmen lassen, ebenso wie die Politiker. Ein Überraschungseffekt kann auch sein, jeden Politiker eine Karte ziehen zu lassen, auf der ein halber Satz steht, der zu vervollständigen ist, wie z.B. „Wenn ich die Wahlen verliere, bin ich …“ oder „Opposition bedeutet …“. Diese Fragen müssen dennoch thematisch mit der Veranstaltung etwas zu tun haben. Auch zu Anfang der Veranstaltung kann man Politiker Karten mit Begrifflichkeiten ziehen lassen, die für die anstehende Debatte wichtig sind. Jeder Politiker muss dann den Begriff, den er gezogen hat, erklären. So befinden sie sich in einer Art Prüfungssituation, die den Schülern auch bekannt ist. Das schafft Empathie zwischen Publikum und Politikern. Wenn das Publikum sich merklich in der Situation zu Hause fühlt, kann auch eine freie Fragezeit gegeben werden. Dabei ist allerdings das Risiko groß, dass Fragen gestellt werden, die nichts mit dem Thema zu tun haben. Dennoch ist diese Ausübung demokratischer Kultur positiv zu bewerten. Denn sich trauen mitzumachen ist ja letztendlich das Ziel.
3. Prinzip der Verständlichkeit Wie zuvor schon erklärt, muss der Diskurs der Politiker zu jeder Zeit verständlich bleiben für das Publikum, sonst driftet die Konzentration ab, selbst wenn die Fragen vom Publikum selbst kommen. Die Moderation bzw. das Organisationsteam muss daher zu Beginn ausdrücklich auf die Pflicht des Gebrauchs der einfachen Sprache, oder einer für die Jugendlichen verständlichen Sprache, hinweisen und erklären wie Verstöße „geahndet“ werden. Im Verlauf der Veranstaltung muss die Moderation dafür sorgen, dass die Debatte nicht in einen politischen Jargon für Eingeweihte mündet. Das kann über Nachhaken bei Fremdwörtern durch die Moderation oder durch im Publikum verteilte Schilder mit der Aufschrift „Halt! Leichte Sprache“ oder durch technische Mittel wie Lichtsignale erfolgen, die die Politiker auf ihre zu abgehobene Sprachwahl aufmerksam machen.
Die Themen, die sich das Konsortium bis zu den nächsten Wahlen 2024 ausgesucht hat, variieren. Dieses Jahr ging es um den Alltag der Politiker: Wie geht Politik? Was ist die alltägliche Arbeit eines Politikers? Wie gestaltet sich der Arbeitstag? Das Ziel war eine Desmystifizierung der politischen Arbeit. Viele Schüler konnten so Vorurteile abbauen und sich ein konkretes Bild der Arbeit der Regierung, des Parlaments und der Rolle der Opposition machen. Denn wenn die Antworten der Jungwähler auf der interaktiven App bei der Aufwärmfrage „Was bedeutet Politik für Dich in einem Wort?“ eine Word Cloud ergeben, bei der das Wort Geld fast noch größer ist als Demokratie, dann ist klar, dass eine Informationsschieflage vorliegt, die am Ende der Podiumsdiskussion geradegerückt sein sollte.
Die Podiumsdiskussion soll ab diesem Jahr immer im März zu einem festen jährlichen Programmpunkt für das 5. und 6. Jahr der Sekundarschule werden. Die Idee dahinter ist den Kontakt zwischen Jungwählern und Politikern sowie den politischen Institutionen zu erhöhen und die Kommunikation zu verbessern. Die Erarbeitung des Themas im Vorhinein, die Formulierung und Einsendung von Fragen sind didaktische Etappen, die Jungwählern das Selbstvertrauen geben, sich einer solchen Diskussion zu stellen und zu erleben, dass Teilnahme zu Antworten auf die eigenen Fragen führt. Die positive Erfahrung im Umgang mit Politikern eröffnet neue Horizonte, weil sie empirisch zeigt, dass jeder, der gut informiert ist, bei einer Diskussion etwas beitragen kann und Neues mitnimmt. Es ist ein Moment, Klischees und Vorurteile zu überprüfen und zu hinterfragen. Dieser Austausch trägt zu einer gewissen Normalität im Umgang mit Politik und Politikern bei und kann letztendlich bei jungen Erwachsenen wieder mehr Interesse an Politik wecken.
Politische Bildung durch diesen Prozess beruht in gewisser Weise auf dem Prinzip der Erlebnispädagogik. Denn wer schon einmal im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft war, kann sich den politischen Alltag der Debatten dort plastisch vorstellen. Wer schon einmal aktiv an einer Podiumsdiskussion teilgenommen hat, traut sich auch eher in anderen Kontexten an Debatten teilzunehmen. Die Kompetenz des sich Einmischens in öffentliche Diskussionen bei guter Kenntnis der Fakten, also die echte Teilhabe an der res publica – den öffentlichen Angelegenheiten – soll dadurch gefördert werden.